Am 9. und 10. Juni 2004 führte die
WHO in Istanbul einen internationalen Workshop zum Thema möglicher
gesundheitlicher Gefährdungen von Kindern durch niederfrequente
und hochfrequente elektromagnetische Felder (EMF) durch.
Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen erarbeiteten
Empfehlungen für künftige Forschungsansätze auf diesem
Gebiet. Die Empfehlungen sind als "New Children´s EMF
Research Agenda" veröffentlicht unter
www.who.int/peh-emf/research/children/en).
Die wesentlichen Punkte werden im folgenden zusammenfassend
vorgestellt.
Einleitung
Generell gibt die WHO Studien am
Menschen das höchste Gewicht, obwohl auch festgestellt wird,
dass Ergebnisse epidemiologischer Studien durch Verzerrungen, z.B.
durch selektive Auswahl von Probanden oder Störgrößen
beeinflusst sein können und ursächliche Zusammenhänge
nur schwer herzustellen sind. Laborstudien mit freiwilligen Probanden
sind gut geeignet, um akute Effekte zu untersuchen, unterliegen
jedoch strengen ethischen Begrenzungen. Dies gilt in besonderer Weise
bei der Untersuchung von Kindern. Tierexperimentelle Studien liefern
zwar belastbare Informationen über gesundheitliche Auswirkungen,
die Frage nach der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den
Menschen muss aber selbst bei gut etablierten Tiermodellen
berücksichtigt werden. Studien auf Zellebene sind vor allem zur
Untersuchung möglicher Wirkmechanismen oder molekularer
Zielstrukturen geeignet, sie sagen aber nichts darüber aus, ob
in der Zellkultur beobachtete Effekte im lebenden Organismus
ebenfalls auftreten oder dort gesundheitlich relevant sind. Die
Dosimetrie wiederum liefert notwendige Informationen über die
tatsächliche Exposition. Für die wissenschaftlich
belastbare Abschätzung eines möglichen Gesundheitsrisikos
müssen Ergebnisse aus allen diesen Bereichen zusammengeführt
werden.
Forschungsempfehlungen zu statischen
Magnetfeldern
Statische Felder wurden auf dem
Workshop nicht ausdrücklich behandelt. Dennoch wird empfohlen,
Laborstudien zur Untersuchung von Einflüssen starker statischer
Magnetfelder auf den sich entwickelnden Organismus durchzuführen.
Hintergrund der Empfehlung ist, dass z.B. in der medizinischen
Diagnostik immer stärkere Magnetfelder eingesetzt werden
(magnetische Flussdichten über 1 T) und die Datenlage auf diesem
Gebiet zu verbessern ist.
Forschungsempfehlungen zu niederfrequenten
Feldern
A. Hohe Priorität
Da sich bei der Untersuchung der Frage,
ob niederfrequente Magnetfelder das Risiko für die Entstehung
von Leukämien im Kindesalter erhöhen können, eine
zusammenfassende Ergebnisauswertung mehrer epidemiologischer Studien,
als informativ erwiesen hat, wird auch für vorliegende Studien
über andere Krebserkrankungen im Kindesalter empfohlen, eine
solche zusammenfassende Auswertung durchzuführen. Für
künftige epidemiologische Studien werden Ansätze wie z.B.
Kohortenstudien favorisiert, die weniger anfällig für
Verzerrungen durch selektive Auswahl der Probanden ("Selektionsbias")
sind als Fall-Kontroll-Studien. Sofern vergleichsweise hoch
exponierte oder besonders empfindliche Gruppen identifiziert werden
können, werden Studien mit diesen Gruppen ebenfalls für
sinnvoll erachtet.
Laborstudien mit Probanden sind zur
Untersuchung der Endpunkte Kognition (Wahrnehmung, Denken, Erkennen,
Erinnern) und Veränderungen im EEG auch bei Kindern geeignet,
wobei selbstverständlich strenge ethische Auflagen eingehalten
werden müssen.
Weiterhin werden experimentelle Studien
an geeigneten Tiermodellen empfohlen. Bisher war ein solches
Tiermodell gerade für die bei Kindern häufigste
Leukämieform, die akute lymphatische Leukämie von B-Zellen
nicht verfügbar. Ein möglicherweise geeignetes Modell wurde
jedoch kürzlich von einer französischen Arbeitsgruppe
entwickelt, bisher jedoch nicht wissenschaftlich publiziert. Weitere
Tierstudien werden empfohlen, um mögliche Einflüsse
vorgeburtlicher Exposition und Kombinationswirkungen von
niederfrequenten Feldern und bekannten Karzinogenen zu untersuchen.
Auf Zellkultur-Ebene werden Studien zum
möglichen Einfluss niederfrequenter Felder auf die Entwicklung
z.B. des blutbildenden Systems im Knochenmark, auf
Zelldifferenzierung oder Nervenzell-Wachstum empfohlen.
Auf dem Gebiet der Dosimetrie sind vor
allem verbesserte Modellierungen der Wechselwirkungen zwischen
niederfrequenten Feldern und dem kindlichem Körper notwendig.
Hierbei müssen altersabhängige Parameter wie
Oberflächenwiderstand, Knochenverkalkung und der bei Kindern im
Vergleich zu Erwachsenen höhere Anteil aktiven Knochenmarks
berücksichtigt werden.
B. Mittlere Priorität
Mit mittlerer Priorität werden
methodisch verbesserte epidemiologische Studien zur Untersuchung
möglicher Zusammenhänge zwischen starker Exposition
gegenüber niederfrequenten Feldern und Fehlgeburtsrisiken
angeregt, da bisherige Studien zu diesem Endpunkt methodische
Schwächen aufweisen.
Weitere Empfehlungen betreffen
tierexperimentelle Studien zur möglichen Beeinflussung des
Immunsystems und zu geringfügigen Skelettveränderungen,
oder auf die Entwicklung kognitiver Funktionen. Dabei sollen länger
andauernde intermittierende Exposition ab der Geburt berücksichtigt
werden. Eine Empfehlung auf Zellebene betrifft die Untersuchung
möglicher Wirkungen auf eine vermutete Schutzwirkung von
Melatonin gegenüber oxidativen Schäden z.B. im
blutbildenden Gewebe.
C. Geringe Priorität
Als vergleichsweise nachrangig werden
weitere Studien zur Suche nach möglichen karzinogenen
Wirkungsmechanismen niederfrequenter Felder, allein oder in
Kombination mit anderen Karzinogenen, beurteilt. Auch der Ermittlung
der Exposition durch nicht-sinusförmige 217 Hz Felder von
Mobiltelefonen (Bereich Dosimetrie) wird geringe Priorität
zuerkannt.
Forschungsempfehlungen zu hochfrequenten Feldern
A. Hohe Priorität
Angesichts der zunehmenden Nutzung von
Mobiltelefonen durch Kinder liegt ein Schwerpunkt auf der
Untersuchung der Frage, ob Kinder gegenüber hochfrequenter
elektromagnetischer Strahlung möglicherweise empfindlicher als
Erwachsene sind.
Im Bereich Epidemiologie wird eine
prospektive Kohortenstudie zu Mobilfunknutzung bei Kindern mit allen
Endpunkten (außer Hirntumoren) empfohlen, in die auch mögliche
Einflüsse auf Kognition und Schlafqualität einbezogen
werden können.
Hirntumore treten zu selten auf, um
sinnvoll mit einer Kohortenstudie untersucht werden zu können.
Für diese Fragestellung sind Fall-Kontroll-Studien vorzuziehen.
Weiterhin wird eine in eine
Kohortenstudie eingebettete Fall-Kontroll-Studie um Basisstationen
und TV-und Radiosender (Endpunkt Krebserkrankungen bei Kindern)
angesprochen, Voraussetzung für solche Studien wäre
allerdings eine gegenüber älteren Studien verbesserte
Expositionsermittlung.
Als Teil einer größeren
prospektiven Kohortenstudie wird zudem eine Laborstudie mit Probanden
zur Untersuchung der Endpunkte Kognition, EEG und Schlaf bei Kindern
empfohlen.
Bei den tierexperimentellen Studien
stehen mögliche Auswirkungen einer langfristigen Exposition des
sich entwickelnden Organismus, vor allem des Zentralnervensystems, im
Vordergrund. Die Expositionsdauer soll die Entwicklung im Mutterleib
und frühe Entwicklungsphasen nach der Geburt umfassen. Mögliche
zu untersuchende Endpunkte sind Verhalten, Morphologie (z.B.
Synapsenbildung zwischen Nervenzellen) und Veränderungen auf
molekularer Ebene sowie Entwicklung und Reifung der
Blut-Hirn-Schranke.
Auf Zellebene sollten vor allem
mögliche Einflüsse auf Differenzierungsprozesse, z.B. von
blutbildenden Zellen im Knochenmark oder auf Nervenzellwachstum
untersucht werden.
Im Bereich Dosimetrie liegt der
Schwerpunkt auf der Bestimmung der Exposition von Kindern z.B. durch
mobile Kommunikationstechnik. Die komplexen Nutzungsmuster (SMS,
Telefonate, Spiele etc) beeinflussen die Exposition und sollten
detaillierter erfasst werden. Als notwendig wird die Entwicklung
verbesserter dosimetrischer Modelle zur Absorptionsverteilung in
Kindern und Föten, unter Berücksichtigung kindlicher
Thermoregulationsprozesse, erachtet.
B. Mittlere Priorität
Mit mittlerer Priorität werden
Tierversuche zum Einfluss hochfrequenter Felder auf die Entwicklung
des Immunsystems oder auf Autoimmunreaktionen im Gehirn, sowie
Zellkulturversuche über mögliche Wirkmechanismen
hochfrequenter Felder bewertet.
Umsetzung der WHO-Empfehlungen
In zahlreichen Ländern laufen
bereits Studien, in denen die WHO-Empfehlungen umgesetzt werden, so
auch in Deutschland z.B. im Rahmen des Deutschen Mobilfunk
Forschungsprogramms (DMF).
Hier ist besonders eine
epidemiologische Studie zu nennen, mit der die Hypothese eines
erhöhten Kinderleukämie-Risikos in der Umgebung starker
Fernseh- und Rundfunksender untersucht werden soll. Der
Abschlussbericht der durchgeführten Pilotstudie kann unter
www.emf-forschungsprogramm.de/.../epi_015_Pilot.pdfabgerufen werden. Beginn der Hauptphase dieser Studie: März
2006.
In diesem Zusammenhang soll auch auf
eine innerhalb des britischen MTHR-Programms ("Mobile
Telecommunications and Health Research Programme") durchgeführte
epidemiologische Studie hingewiesen werden, die ein mögliches
Risiko von Krebserkrankungen im frühen Kindesalter (Schwerpunkt
Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphome) um Mobilfunkbasisstationen
untersucht und die im Juli 2006 abgeschlossen sein soll (siehe
hierzu:
www.mthr.org.uk/.../elliot2.htm).
Eine
weitere im Rahmen des DMF laufende bevölkerungsbezogene
Querschnittsstudie soll mögliche Zusammenhänge zwischen
akuter subjektiver Befindlichkeit und der individuell gemessenen und
der selbst eingeschätzten Exposition von Mobilfunkfeldern bei
Kindern und Jugendlichen untersuchen. Hierbei kommen neu entwickelte
Personendosimeter, die auch für Kinder handhabbar sind, zum
Einsatz.
Mehrere der im Rahmen des DMF laufenden
tierexperimentellen Studien tragen der von der WHO geforderten
Berücksichtigung einer langfristigen Exposition des sich
entwickelnden Organismus Rechnung. Hier ist vor allem eine
Langzeitstudie zu nennen, in der Labornager über drei
Generationen - d.h. auch während der Entwicklungsphasen vor der
Geburt - gegenüber Mobilfunkfeldern exponiert werden. Im
Vordergrund dieser Studie steht die Bestimmung möglicher
Lernleistungs- und Gedächtnisdefizite, zudem werden mögliche
Einflüsse auf die Blut-Hirn-Schranke sowie auf die Stress- und
die Immunantwort untersucht.
In einer weiteren, mehrere Generationen
umfassenden Studie an Labornagern soll geklärt werden, ob eine
Langzeitexposition mit Feldern des Mobilfunks nach UMTS-Standard die
Endpunkte Vermehrungsfähigkeit und Entwicklung beeinflusst.
Ein Zellkultur-Projekt befasst sich mit
möglichen Wirkungen von GSM-Mobilfunksignalen auf spezifische
Funktionen von Zellen des Immunsystems wie Phagozytoseaktivität
oder die Produktion reaktiver Sauerstoffverbindungen.
Zur Frage möglicher
altersabhängiger Wirkungen hochfrequenter Felder wurde zunächst
eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, deren Ziel die umfassende
Analyse und Bewertung vorliegender Daten zu altersabhängigen
biophysikalischen und biologischen Faktoren war. Es sollte geklärt
werden, ob sich die Hypothese einer höheren Empfindlichkeit von
Kindern und Jugendlichen gegenüber hochfrequenten
elektromagnetischen Feldern aus den vorliegenden wissenschaftlichen
Informationen begründen lässt. Gegebenenfalls sollten
relevante Zielstrukturen benannt werden als Basis für eine dann
durchzuführende Hauptstudie. Die Machbarkeitsstudie wurde
mittlerweile abgeschlossen, der Abschlussbericht ist unter
www.emf-forschungsprogramm.de/.../bio_055_AbschB.pdf
abrufbar. Auf der Basis der Ergebnisse dieser Machbarkeitsstudie wird
im DMF eine Hauptstudie durchgeführt, in der durch möglichst
realitätsnahe Modellierung sowohl des kindlichen Kopfes als auch
der Strahlungsquelle die Frage nach Ausmaß und
Verteilung von HF-Absorption und Temperaturveränderungen im
kindlichen Kopf untersucht werden soll. Dabei ist die altersabhängige
Variabilität physiologischer, biophysikalischer oder
anatomischer Parameter so weit wie möglich zu berücksichtigen.
Die Auflösung des anatomischen Modells soll ausreichend sein, um
Zielstrukturen wie Pinealorgan, Hippokampus, Hypothalamus und
Schädelknochen mit Knochenmark zu erfassen.
Nähere Informationen zu Inhalt und
Verlauf der einzelnen Projekte des Deutschen Mobilfunk
Forschungsprogramms finden Sie auf dieser Homepage unter dem
Stichwort Forschungsvorhaben).
Weiterführende Informationen zu niederfrequenten und
hochfrequenten Feldern erhalten Sie auch auf den Internetseiten des
Bundesamtes für Strahlenschutz unter www.bfs.de/elektro.
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